Sofortige Einstellung der Neumühl-Prozesse

Veröffentlicht am 3. Juli 2025 um 13:14

Im November 1977 eskalierte in Duisburg eine Party, die im Abrisshaus der Familie Stockhecke begonnen hatte. Nachbarn hatten die Polizei wegen angeblicher Ruhestörung informiert, die daraufhin mit einem Großaufgebot in den Stadtteil Neumühl ausrückte, wo an die 150 Jugendliche feierten. In der Folge kam es zu tätlichen Auseinandersetzungen zwischen den Beamten und den feiernden Personen. Elf Menschen wurden an diesem Abend festgenommen – während des sogenannten Deutschen Herbstes und der erst wenige Monate zurückliegenden Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Martin Schleyer durch die RAF wähnte die Polizei hinter jeder Versammlung eine terroristische Zelle (Rolf Düdder, Zeit, 45/1979).

Schließlich erhob die Staatsanwaltschaft Anklage gegen zwölf der Gäste, wobei man sie des Landfriedensbruchs beschuldigte. In einer Dokumentation der Ereignisse, die von Unterstützern der Angeklagten verfasst worden war, heißt es: „Uns wird vorgeworfen, ‚gemeinschaftlich handelnd sich an Gewalttätigkeiten, die aus einer Menschenmenge in einer die öffentliche Sicherheit gefährdenden Weise mit vereinten Kräften begangen wurde, als Täter oder Teilnehmer beteiligt oder auf die Menschenmenge eingewirkt zu haben, um ihre Bereitschaft zu solchen Handlungen zu fordern.‘“ (Stockhecke, Dokumentation) Der im Jahr 1979 beginnende Prozess schlug hohe Wellen, weil er von den einen als Fanal gesehen wurde, um gegen die angeblich verrohte und gewaltbereite Jugend vorzugehen.

Die Seite der Angeklagten sah hinter dem Vorgehen der Polizei den eigentlichen Skandal. Um diesen Standpunkt einer breiten Öffentlichkeit kundzutun, nutzte man in der Folge alle damals bekannten, medialen Mittel. Neben einer laufend aktualisierten Dokumentation, die auch ein Lied enthielt, über das sich Unterstützende schnell im öffentlichen Raum erkennbar machen konnten, begannen die Aktivist*innen auch subversive Mittel einzusetzen. Sie erläutern in der Dokumentation ihre Beweggründe: „Wir haben nicht die Möglichkeit durch bestehende Presseorgane, die uns hier gestellte Aufgabe zu erfüllen. Da aber gerade die informierte und beteiligte Öffentlichkeit für uns den einzigen Schutz darstellt, müssen wir uns auf diesem Wege an Sie wenden.“ (Stockhecke, Dokumentation)

Ein Sticker aus der Zeit der sogenannten Neumühl-Prozesse hat sich heute im Archiv für alternatives Schrifttum in Duisburg erhalten. Als Zweifarbdruck zeugt er von den technischen Mitteln, die für die Herstellung solcher Produkte in den 1970er Jahren zur Verfügung standen. Dargestellt ist ein Polizist mit Helm, Schild und Schlagstock, darüber wird für die Einstellung der Prozesse geworben. Die darunter angebrachten Daten des Prozessbeginns – 17. Oktober `79 im Hamborner Ratskeller – verweisen auf die Funktionen des Aufklebers: Mit dem Verkleben des Objekts im Stadtraum wurden Interessierte auf die anstehenden Prozesse aufmerksam gemacht. Über die Mittel einer Graswurzelbewegung wurden so weitere Unterstützende gewonnen. Durch die Anwesenheit vieler Personen, die im Vorübergehen auf die Sticker gestoßen waren, konnte in der Folge die Solidarität eines großen Teils der Stadtgesellschaft gegenüber Polizei und Justiz zum Ausdruck gebracht werden.

Sticker verbinden in ihrem Format Ausdrucksformen sozialer Bewegungen des 20. Jahrhunderts mit denen der heutigen Zeit. Die Kombination aus Bild und der mit ihm verbundenen Ikonografie, auf bestimmte Art gelayoutetem Text sowie die Anbringung im öffentlichen Raum erinnert an die Verbreitung von Memes in den sozialen Netzwerken, kann aber bis zu den Flugblättern der Reformationszeit zurückverfolgt werden. Das macht Aufkleber zu geeigneten Objekten, um mit ihnen adaptive Lernformate der historischen Bildung zu bestreiten – mit oder ohne digitale Verknüpfungspunkte.

Ferdinand Leuxner

Abb.: Sticker zu den Neumühl-Prozessen, Foto: Archiv für alternatives Schrifttum, 2025.

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