Duisburg klebt schon 1927?

Veröffentlicht am 26. November 2025 um 08:24

Sticker sind heute überall in der Stadt zu finden. Das war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch ganz anders. In Duisburg gab es keine Graffitis, keine Tags und keine Aufkleber. Kunstwerke im öffentlichen Raum wurden vom Stadtrat genehmigt. Dabei bringt ein 1927 in einer Berliner Wochenzeitung erschienenes Gedicht einen ersten Vorläufer eines Stickers in Duisburg ins Spiel. Was war geschehen?

Im Sommer 1927 wurde im Duisburger Tonhallengarten nahe des König-Heinrich-Platzes in der Stadtmitte eine Figur des in Meiderich geborenen Künstlers Wilhelm Lehmbruck aufgestellt, die in der Stadtgesellschaft in der Folge für einige kontroverse Debatten sorgte. Obwohl der demokratische Stadtrat die Aufstellung der Figur mit nur einer einzelnen Gegenstimme genehmigt hatte, begann insbesondere die konservative Presse gegen das Kunstwerk Stimmung zu machen. Bereits bei der Probeaufstellung im Mai wurde die Kniende von der Lokalpresse herabgewürdigt.

Lehmbrucks „Kniende“ stellt eine überlebensgroße Frauenfigur dar, die, den Kopf neigend, vor dem Betrachter auf die Knie gesunken ist. Die Nacktheit und die Proportionen der Figur führten zu teils heftigen Reaktionen vonseiten einer religiös-konservativen Öffentlichkeit. Nachdem man im „Rheinischen Kurier“ dem Werk den Spitznamen „Neandertal-Weib“ verpasst hatte und sogar ein fiktives Interview mit ihr abgedruckt worden war, erschien ein Artikel, in dem ganz offen die Beschädigung von Lehmbrucks Kniender ins Spiel gebracht wurde: „[E]s möchten ein paar ,Handfeste‘ gegen gute Bezahlung ein paar Monate ,Brummen‘ riskieren und die ,Kniende‘ enthaupten und entbeinen.“

Die andauernde Polemik zeitigte schließlich Erfolg: In der Nacht vom 27. auf den 28. Juli 1927 wurde die Skulptur umgestürzt. Als Täter wurden vier junge Kaufleute ausgemacht, die alkoholisiert von einer Versammlung ihres Vereins in den Park des Tonhallengartens aufgebrochen waren. Dabei wurde die Bronze schwer beschädigt.

Der Sturz provozierte einen Aufschrei in der deutschen Presselandschaft. Kulturschaffende bezogen Partei für die Skulptur. Unter anderem zeigten sich der Kunstschriftsteller Fritz Stahl, der Philosoph Ludwig Marcuse und der Publizist Erich Kästner entsetzt über die frevelhafte Tat. Besonders ausführlich ging der Schriftsteller Erich Weinert mit den Duisburgern ins Gericht. In der Berliner Wochenzeitung „Die Welt am Montag“ erschien unter dem Titel „Duisburger Bilderstürmer“ ein Gedicht, das die Vorgänge, die zum Stürzen der Skulptur führten, lyrisch überhöht, aber detailliert schilderte. In der ersten Strophe heißt es:

„Sie sahen ein nacktes Mädchen knien./

Das war natürlich aus Bronze./

Sie hatten Tod und Verderben gespien/

in einer Protestannonce./

Der Vaterländische Frauenverein,/

Als Abwehrfront gegen Schweinerein,/

Marschierte hinaus zum Parke,/

von Sitteneifer durchbebt,/

Und hat eine Wohlfahrtsmarke/

ihm unter den Bauch geklebt.“

Mit diesem ersten, von Weinert identifizierten Eingriff, beendeten die Konservativen die in ihren Augen frevelhafte Nacktheit der Figur. Hierzu nutzten sie ein klebendes Papierstückchen. Bei Wohlfahrtsmarken handelte es sich um eine im 20. Jahrhundert beliebte Variante der Briefmarke, die neben dem normalen Postentgelt noch einen Zuschlag – zumeist etwa das halbe Porto – für einen guten Zweck besaß. In Deutschland kamen Zuschlagsmarken nach dem Ersten Weltkrieg auf. Die Ausgabe übernahm eine staatliche Stelle, die damit auch den Spendenzweck definierte.

So kursierten in den 1920er Jahren im Deutschen Reich Wohlfahrtsmarke für die Deutsche Nothilfe. 1927 zeigten diese Marken zur Feier dessen 80. Geburtstags den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg. Damit repräsentierten die Marken das revisionistische Deutschland, das einen General aus dem Ersten Weltkrieg zum Präsidenten gewählt hatte. Weinerts Beschreibung der Vorgänge in Duisburg impliziert, dass der Vaterländische Frauenverein vor dem Aufkleben der Marke an ihr geleckt hatte, denn selbstklebende Brief- bzw. Wohlfahrtsmarken existierten in den 1920er Jahren noch nicht. Obwohl andere Quellen Weinerts Beschreibung widersprechen – es soll ein Handtuch gewesen sein, dass die Figur vom Frauenverein umgehängt bekam, – ist die Wohlfahrtsmarke doch die erste Beschreibung eines stickerähnlichen Objekts im öffentlichen Raum in Duisburg.

1927 waren solche Objekte noch keineswegs Symbole für eine künstlerische oder demokratische Aneignung des öffentlichen Raumes. Nach Weinert stellten sie dagegen Zeichen für ein drohendes Ende der demokratischen Freiheiten der Weimarer Republik dar. Die Nationalsozialisten machten Aufkleber zu einem Propagandainstrument und erst in den 1960er Jahren wurden Sticker zu dem, was sie heute sind: Materielle Spuren einer vielfältigen Stadtgesellschaft. Ferdinand Leuxner

 

Abb. 1: Die Kniende, gemeinfrei.

Abb. 2: Wohlfahrtsmarke 1927, gemeinfrei.

 

Zum Weiterlesen:

  • Siegfried Salzmann: „Hinweg mit der ,Knienden‘“. Ein Beitrag zur Geschichte des Kunstskandals. 2. Auflage, Duisburg 1981.

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